Reisebericht: Shizuoka, Mai 2022
Nach mehr als zwei Jahren, in denen Japan die Grenzen geschlossen hielt, konnte ich im Mai endlich wieder nach Japan reisen. Zum ersten Mal seit 20 Jahren war ich alleine in Japan, ohne meinen Mann und meine Kinder. Das erlaubte mir, die Zeit meines Besuchs sehr frei zu gestalten. Nebst Familienbesuchen und Wiedersehen mit Freunden freute ich mich darauf, während meiner Reise auch Zeit dem Tee zu widmen. Mein Besuch fiel genau auf die Erntezeit und schon lange reizte es mich, einmal bei der Pflückung und Verarbeitung dabei zu sein. Und so organisierte ich für den 19. Mai einen Besuch bei der Familie Tsuchiya, die Tee in Kawanehon bei Shizuoka produzieren. 2017 haben wir die Familie zum ersten Mal besucht, seitdem beziehen wir verschiedene Senchas von ihnen. Auf die Frage, wann ich kommen könne, antwortete Tochter Yuko Tsuchiya, das hänge vom Morgentau ab, dieser müsse bereits etwas verdunstet sein, ansonsten sei der Tee zu feucht und es könne noch nicht mit dem Pflücken begonnen werden. Als ich um 9 Uhr bei der kleinen Teefabrik ankam, war in grossen Körben Tee zum Welken ausgelegt – Sencha Zairai, diesen würden wir später verarbeiten.
Die kleine Produktionsstätte und die dazugehörigen Teegärten liegen in den Hügeln auf circa 600m.ü.M. Der Tee wird hier angebaut, gepflückt, und verarbeitet. Eine benachbarte Fabrik übernimmt dann das Aussortieren, bevor die Familie Tsuchiya die Tees verpackt und verschickt. Der Betrieb wird von Tocher Yuko und Vater Tetsuo geführt, Yukos Ehemann hilft am Wochenende mit. Zusammen mit Yuko und Tetsuo machte ich mich auf, um in den steilen Hanglagen Tee zu pflücken. Die Pflückung für die ganz edlen Tees war bereits vorbei, zu diesem Zeitpunkt wurde vor allem noch das Blattgut für Sencha Okuhikari geerntet. Während die prestige-trächtigen Wettbewerb-Tees ganz von Hand gepflückt werden, werden bei den etwas einfacheren Tees auch Maschinen eingesetzt. Diese muss von zwei Personen über die Büsche gestreift werden, die Blätter werden dann in einem Sack aufgefangen, der idealerweise von einer weiteren Person gehalten wird, um die Arbeit zu erleichtern. Letzteres wurde meine Aufgabe. Und so schritten wir zusammen Reihe für Reihe ab. Das steile Gelände erforderte dabei grosse Aufmerksamkeit und Trittsicherheit. Die Sonne schien bereits kräftig. Der gepflückte Tee musste deshalb schnell in den Schatten gebracht werden, damit er nicht zu welken und oxidieren begann.
Nach dem Mittagessen war ich alleine mit Tetsuo und durfte ihm bei der Verarbeitung des am Morgen gepflückten Tees assistieren. Gemeinsam würden wir einen Sencha Okuhikari produzieren. In einem Durchlauf konnten zwei Körbe à je 13 kg verarbeitet werden. Nach dem Abwiegen, was meine Aufgabe war, wurde der Tee gedämpft. Danach begann das Rollen, ein Vorgang der mehrmals in unterschiedlicher Form ausgeführt wurde. Zunächst wurden die Blätter grob in einer grossen, sich drehenden Röhre gerollt, wobei heisse Luft zugeführt wurde. Danach wurden die Blätter zwischen Metallrillen gerollt. Hier war die Bearbeitung des Blattes viel stärker, es ging darum, die innere Feuchtigkeit aus dem Blatt zu holen, so dass der Tee gleichmässig trocknen kann. Zuletzt wurden die Blätter in die typische Nadelblattform gerollt. An dieser Stelle durfte ich vom Tee probieren. Obwohl er noch nicht die geschmackliche Tiefe eines ganz fertig Tees hatte, war es doch eine ganz eigene, wunderbare Erfahrung, den selbst gemachten Tee zu probieren! Nun kam der Tee zum Trocknen in einen kleinen Schrank, bis er nur noch ein letztes bisschen Restfeuchtigkeit enthalten würde. Damit wäre der Aracha, der unsortierte Tee fertig. Das Aussortieren würde eine grössere Fabrik in der Nähe übernehmen, bevor Familie Tsuchiya den Tee dann verpacken und verschicken würde.
Obwohl viele der Arbeitsschritte maschinell erfolgten, bildete das Wissen und die Erfahrung von Tetsuo immer noch das Herzstück der Verarbeitung. Tetsuo prüfte laufend, wann das Blattgut bereit war für den nächsten Schritt, indem er die Blätter knetete, ihre Konsistenz fühlte, ihren Duft roch. Die Verarbeitung erforderte auch einiges an körperlicher Arbeit, wenn das Blattgut zwischen den einzelnen Arbeitsschritten von der einen Maschine zur anderen getragen werden musste.
Später am Nachmittag verarbeiteten wir den am Abend zuvor gepflückten Sencha Zairai. Dieser entstammt aus über 100jährigen Teebüschen der Zairai-Varietät, die ursprüngliche japanische Teepflanzenvarietät, die direkt aus China stammt. Im Gegensatz zu anderen Sencha wird das Blattgut eine Nacht lang liegen gelassen, wodurch er leicht welkt. Ansonsten wird er aber gleich verarbeitet wie andere Sencha. Auch hier durfte ich bei jedem Arbeitsschritt dabei sein. Während des Dämpfens entfaltete das Blattgut einen besonderen Duft, ganz zärtlich und blumig. Dieser wird mir noch lange in Erinnerung bleiben.
Und so verliess ich den kleinen Betrieb am Abend satt gefüllt mit neuen sensorischen Eindrücken und neuem Wissen. Ich war berührt von der sanften, respektvollen und aufmerksamen Gastfreundschaft und der Offenheit, mit der mich die Familie Tsuchiya empfangen hat. Während des ganzen Tages hatten sie ihr Wissen grosszügig mit mir geteilt, mir alles gezeigt und erklärt und all meine Fragen geduldig beantwortet.
Umso mehr freue ich mich, die neue Ernte jetzt dann in der Schweiz zu trinken und mich so ein bisschen zu erinnern.
Hitomi Leiser-Nakamura