Teegeschichte 35
Tee gab es als ich jünger war zum Abendbrot. Warme Küche gab es mittags, meine Mutter kochte zu dieser Zeit noch nicht so raffiniert gut und gerne wie sie es heute tut. Die wichtigste Mahlzeit überhaupt hiess gemäss deutscher Tradition „Kaffee und Kuchen“. Wir Kinder tranken dann Milch mit Kakao. Am Abend gab es Brot oder Pumpernickel, Käse, Wurst und Hagebutten-Beuteltee. Ich erinnere mich, dass ich froh war, wenn im Sommerhalbjahr als Alternative manchmal Apfel- oder Orangensaft serviert wurde. Am Hagebuttentee faszinierte mich vor allem die rote Farbe, welche aus den Beuteln schoss, sobald sie mit Wasser übergossen wurden. Auch wunderte mich, dass die dünnwandigen Gläser in Metallhalterungen, in denen der Tee serviert wurde, bei der Hitze nicht platzten. Ansonsten interessierte mich Tee nicht. Selten gab es auch Liptons Yellow Label Beutel-Schwarztee. Auch dieser war nur mit Zitronensaft und „viiiieeel“ Zucker einigermassen geniessbar. Meinen Durst sparte ich mir wohl unbewusst fürs nächste Frühstück auf an dem ich sicher einen halben Liter Milch „verputzen“ würde.
Mein Interesse am Tee erwachte erst und dann schlagartig als ich zu Beginn meines Studiums mit fünf StudienkollegInnen für eine Woche nach Amsterdam reiste. In der wundervollen, charmanten rotzieglig-grachtigen Stadt spaltete sich unsere kleine Reisegruppe bald in zwei Lager: die Bier- und Hanffans auf der einen Seite sowie die Kulturfans -Charlotte und mich- auf der anderen Seite. Unser Interesse galt dem Treiben auf den Strassen, den Ausstellungen und Flohmärkten und den vielen schmucken kleinen Cafés und Teehäusern. In einem kleinen Lokal, dessen Interieur uns in die Blütezeit der holländischen Kolonialgeschichte zurückversetzte, verstand es sich von selbst, dass wir einen Tee bestellten, möge er schmecken wie er wolle. Der Tee wurde in antikem holländischem Porzellan serviert, als offenes Blatt in einem filigran verzierten silbrigen Sieb, dessen Rand perfekt auf die Tasse passte. Dazu gab es Sablés und ein Silberkännchen mit Sahne. Gemütlich lehnten wir uns in den schweren Polstersesseln zurück und setzten andächtig und vornehm die Tassen an unsere Lippen. Lady Charlotte und Lady Angela beim wohlverdienten Nachmittagstee, ganz im Moment und nur dem Tee zugetan. Miss Marple sass mit Strickzeug am Nebentisch und zwinkerte uns zu. Anfangs war ich einfach überrascht, dass Tee so gut schmecken konnte. Etwas rauchig war er. Das Gebäck passte ausgezeichnet dazu. Aber da war noch etwas anderes. Tee bedeutete von da an und auch heute noch Innehalten, Genuss und Kultur und Kunst. Sicher spielte damals die Exklusivität des „richtigen“ Teetrinkens eine Rolle. Bier trinken und Kiffen das konnte ja jeder und Kaffee gabs auch überall. Aber wer trank schon Tee? Und wer wusste, was guter Tee war? Eine Kultur des Tee Trinkens zu pflegen, das war etwas Besonderes. Je länger ich mich mit Tee beschäftigte, desto neugieriger wurde ich, desto weiter öffnete sich der Horizont für Geschmack und Vielfalt dieses genialen Getränks und die Vielfalt der Länder und Kulturen in der Tee eine Bedeutung hat, die jene der Flüssigkeitsaufnahme bei weitem übersteigt. So unterschiedlich die Länder und Völker sind, die ich in den letzten 20 Jahren bereiste, überall fand und finde ich sie wieder: die Gewissheit, dass Tee mehr ist als ein wunderbar schmeckendes Getränk. Sei es beim Herumreichen der kleinen Kalebasse mit Yerba Mate in Argentinien oder beim süssen Willkommenstee im Berberzelt im Atlasgebirge Marokkos. Sei es Omas Kate auf der Insel Juist beim Ostfriesentee mit Kluntje und Wulkje oder beim intensiv grünen Macha in einem japanischen Teeraum: Tee ist Genuss und Kultur. Tee verbindet Menschen, ist Ritual und kann fast so etwas sein wie eine Meditation. Tee trinke ich, wenn ich eine Pause machen will oder ein wenig Seelenheil brauche. Ich biete ihn immer an, wenn ich Gäste empfange.
Zur Zeit geniesse ich das Privileg nur etwa 50 Hausnummern vom Länggassteeladen zu wohnen und mir je nach Gemütsverfassung, Lust und Sehnsucht eine Teetradition aussuchen und mit Genuss tanken zu können. Dafür nehme ich in anderen Restaurants und Cafés, die noch nicht über einen Beutel Yellow Label hinausschauen können, dann doch lieber wieder einen Orangen- oder Apfelsaft.
Angela Losert
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