Reisebericht: Kyoto, Tokyo, 17.-18. April 2023
Auf dem Weg von Kyushu nach Tokyo machen wir eine Nacht Halt in Kyoto, der alten Kaiserstadt. Irgendwo in den verwinkelten Gässchen ist der Laden von T. Nishikawa versteckt. Von Ihnen beziehen wir japanisches Kunsthandwerk: Chawan für die Maccha-Zubereitung, handbemalte Tassen und Tetsubin, also die unbeschichteten Gusseisenkannen zum Wasser kochen.
Der gedrungene Laden ist von vorne bis hinten mit verschiedenem Geschirr gefüllt. Kayoko Nishikawa und Mayumi Araki führen uns durch die engen Gänge und erklären uns die Ausrichtung des Ladens, ihr Fokus liegt auf kleinen Ateliers. Optimalerweise mit Produktionschargen von weniger als hundert Stück. Das bedeutet, bei Geschirr von beliebten ProduzentInnen kann es auch mal zu zwei Jahren Wartezeit kommen. Wir begutachten allerlei Tassen und Schalen, darunter einige, die wir schon vom Katalog kennen und in Bern führen. Viel Spannendes dabei, gut möglich dass wir unsere nächste Bestellung etwas breiter fassen.
Wir laufen zehn Minuten vom Laden in das nahegelegene Töpferquartier. Dort zeigt uns Nishikawa-san das Atelier von Soryu und Madoka Wakunami. Sie stammen beide von zwei verschiedenen Töpferfamilien ab, sind die jeweiligen LinienhalterInnen und haben die beiden alten Stile aus Kyoto und Kyushu zu einem neuen vereint. Die markanten tobi-kanna Schnitte, auf dem Foto zu sehen, sind eines ihrer Markenzeichen.
Mit dem Taxi fahren wir in den nördlichen Teil von Kyoto, wo das in Familienbesitz stehende Haus mit Showroom steht. In zwei Wochen kommt eine neue Kollektion auf den Markt und wir dürfen einen Blick darauf werfen. Wir gehen an dem stattlichen Haus vorbei, durch den Garten in ein Nebengebäude. Stolz präsentiert uns Nishikawa-san ihre neuste Arbeit und die Familiengeschichte. Die neuen Kannen und Tassen sind auf einem Spiegeltisch ausgestellt. Diese neue Kollektion namens Nishikawa Japan soll die Tradition des Exports von feinstem Porzellan von Nishikawas Grossvater wieder aufnehmen. In Zusammenarbeit mit einem Chip-Hersteller hat sie die filigranen Muster auf den dünnen Metallhenkeln und Siebe aus Edelstahl machen lassen.
Ihr Grossvater hat 1917 in Kyoto angefangen mit Keramik zu handeln und dabei viel nach Europa exportiert. Er hat auch das Haus in dem wir uns befinden von einem berühmten Architekten bauen lassen. Ein spannendes Werk, das von seinem Leben als Kaufmann zeugt. Aussen minimalistisch weisser Abrieb, Innen zwei Welten. Die einen Räume wie in einem englischen Gutshaus zu Zeiten Victorias, Marmorkamin und Samtsessel. Durch eine Tür und wir stehen in einem traditionell japanisch eingerichteten Wohnzimmer, dass Tanizaki alle Ehre gemacht hätte. Mitten drin eine gewagt eingerichtete Tokonoma mit riesiger Schriftrolle und ausladendem Blumenarrangement.
Da wir zum Abendessen wieder in Tokyo sein müssen haben wir leider keine Zeit mehr, um in diesen Räumen einen Tee zu trinken. Wir steigen wieder ins Taxi zum Bahnhof. Dann mit dem Zug von Kyoto nach Tokyo. 513km in 2.5 Stunden. Shinkansen fahren macht Spass.
In Tokyo besuchen wir Florent Weugue von Thés du Japon. Er arbeitet seit fast fünfzehn Jahren mit Tee in Japan und ist einer der ganz wenigen Westler der die Prüfung zum "Japanese Tea Instructor" bestanden hat - neben dem breiten und tiefen Teewissen, den Blindverkostungsfähigkeiten ist eine weitere Hürde die Sprache: nur japanisch! Alltagsjapanisch reicht da bei Weitem nicht.
Sein Laden ist einzigartig: Florent hat sich auf Single Origin Tea, seltene Varietäten und Töpferkunsthandwerk spezialisiert. Ich kann seinen Blog "Japaneseteasommelier" sehr empfehlen.
Wir probieren verschiedene Tees, diskutieren über Varietäten und fragen nach traditionellem Bancha. Wir erkundigen uns bei allen unserer Kontakten danach. Unter Bancha verstehen die meisten Sencha aus späteren Ernten. Der Begriff umfasst aber auch alte, lokale Teeverarbeitungsarten, wie etwa Awa-Bancha, Iri-Bancha, Goishicha oder Batabata-Cha. Sie unterscheiden sich zumeist sehr stark vom typischen Grüntee und können allerlei Verarbeitungsschritte wie z.B. eine anaerobe Fermentation mit Milchsäurebakterien beinhalten, die dem Tee eine animalische, säuerliche Note verleihen. Das interessiert uns natürlich sehr.
Florent bestätigt uns, was wir immer wieder hören. Solcher Tee ist schwierig zu bekommen, für die Industrie uninteressant und für den Grosshandel kaum machbar. Wir bleiben dran.
Ich bewundere die aussergewöhnliche Auswahl an Teekeramik. Banko, Tokoname, Bizen, Hagi. Kyusu in allen Formen und Farben. Florent setzt fast ausschliesslich auf Ware von einzelnen KünstlerInnen. Solches Handwerk wird auch in Japan zunehmend seltener. Ich nehme ein paar Stücke für meine Sammlung mit.
Nach der stillen Idylle von Ureshino und Hoshino reisst uns Tokyo mit einem Ruck wieder in die moderne, laute Welt zurück. Millionen von Menschen wuseln hier geschäftig herum. Das Bahnnetz ist bestens organisiert und im Sekundentakt rauschen Züge umher, wenn auch die Zugabteile oft so vollgestopft mit Fahrgästen sind, dass man Mühe hat die Arme frei zu bekommen, um einen Schluck Ocha aus der Petflasche zu nehmen. In diesen Momenten löst man sich in der Grossstadt auf und lässt sich von den Menschenmengen umhertreiben.
Es reicht noch für einen kurzen Besuch im Tokyo National Museum, das ganz in der Nähe liegt. Hier finden sich sechs originale Raku-Chawan aus den vergangenen Jahrhunderten. Die älteste Schale wurde vor über dreihundert Jahren vom dritten Oberhaupt der Raku Familie, Dōnyū geformt. Eigenartig was so eine Chawan mit einem machen kann. Nüchtern betrachtet ist es eine unförmige, schwarze Müslischale. Doch da drängt sich die Frage auf, warum niemand daraus Müsli isst und warum gerade diese Schale hier steht. Irgendjemand muss sich mit einem sehr gutem Grund dafür entschieden haben.
Bei längerem Hinschauen fällt einem ganz allmählich die Tiefe der Glasur auf. Man fragt sich wo die Absicht hinter der scheinbar zufällig geschwungenen Lippe liegt. Die Form der ganzen Schale dünkt einen plötzlich ganz undiskutierbar, genau so wie sie sein sollte. Unversehens bin ich im Bann der Schale und kann mich nicht mehr satt sehen. Wie schwer würde die sie wohl in der Hand wiegen? Wie wäre es, in einem ruhigen Raum einen Tee daraus zu trinken? Sicher ziemlich gut.
Tobias Hurschler, Kawanehon und Wakayama, 23.-24. April 2023