Teegeschichte 33
Unlängst fragte mich Carol über den Ladentisch hinweg, ob ich nicht ein paar Teegeschichten wüsste. Länggass-Tee feiere sein Dreissigjahr-Jubiläum, und da sammelten die Mitarbeiterinnen Geschichten und Anekdoten rund ums Teetrinken. Dazu lächelte sie gewinnend.
Seit einiger Zeit schon kauf'ich meinen Tee, an dem es mir keineswegs fehlen darf, im heimelig altmodischen Laden an der berühmten Berner Länggass. Konservativ genug, ersteh'ich jedes Mal hundertfünfzig Gramm eines zarten Ceylon mit irgendeiner wohlklingenden zusätzlichen Benennung, welcher dann sowohl zum Frühstück als auch am Nachmittag genossen werden mag.
Genossen heisst, dass sein Duft die Nase beschleicht, während die warme Schale in der Hand den Lippen näherschwebt, begleitet von der leisen Sorge, diese zu verbrühen; dass nach behutsamem Fortblasen des Dampfes vorsichtig ein Schluck über die Zunge gleitet und zwischen den Zähnen in die erwartungsvollen Backen strömt; dass dergestalt das köstliche Aroma im gesamten Mundraum aufblüht, bevor der lau gewordne Schluck belebend in den Rachen gurgelt.
Von derlei innigem Geschehen angeregt, steigen vielerlei Bilder auf, sodass einer wie von selbst ins Erzählen geraten kann ...
Wien im zweiten Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch des grossdeutschen Wahns, eine geräumige Innenstadt-Wohnung, darin ein alter Offizier mit seinen beiden Töchtern und dem kleinen Enkel lebt, wiedervereint nach acht kargen, lebensbedrohlichen Jahren im deutschen Exil und weiteren des auf verschiedenen Wegen Wiederankommens in der Heimat, langersehnter Ruhestand mit nahezu militärischer Regelmässigkeit im Tagesablauf, all das bildet einen frühen Teppich meiner Erinnerung.
Heute würde diese Zeit als betulich erlebt werden, als langweilig gar. Internetfrei und mobilfunklos bewegte der Mensch sich etwas weniger hastig. Gebrauchswaren aller Art wurden beim Greissler oder Gemischtwarenhändler zwei Gassen weiter besorgt, wo nicht selten auch ein Schwätzchen über Wetter, Nachbarschaft oder Politik zustandekam. Die zu wissenden Gegebenheiten trug man im Kopf, nicht im Smartphone, wodurch die individuellen Begegnungen zumeist authentischer ausfielen, überhaupt wenn es dazu einen kleinen Stehkaffee gab.
Abgesehen vom "Türkischen", einem kräftigen, in osmanischer Manier gebrauten Kaffee, den eigentlich nur die beiden Schwestern zu sich nahmen, galt bei uns allerdings der Tee als Kulturgetränk schlechthin. Bereits zum Frühstück stand eine Kanne Earl Grey auf dem Küchentisch, deren Tülle Schwaden parfümierten Dampfes entliess. Die Küche schien überhaupt der alltägliche Treffpunkt der kleinen Familie zu sein, obschon sie schmucklos und mit ihrem kalten Kunststeinboden eher ungemütlich war. Ansonsten hielt sich ein jedes in seinem Zimmer auf, wobei die Türen freilich offenstanden, sodass ich zum Beispiel im Vorbeigehen sehen konnte, wie mein Grossvater mit einer dunkelgrünen Füllfeder an seinen Memoiren schrieb.
Am späten Nachmittag fanden sich die Familienmitglieder gleichwohl im Salon ein, um sich an "russischem" Tee zu laben. Weit davon entfernt, aus dem Mutterland aller sozialistischen Gnaden zu stammen, handelte es sich vielmehr um einen Darjeeling, der stets beim Schönbichler, einer bekannten "Theehandlung" in der Wollzeile nahe dem Stephansdom, eingekauft wurde, eingewogen in silbrig schimmernde Sackerln (Tüten sagen die Piefke, welche in der Schweiz so herzlich Schwaben gerufen werden). Die dunklen, feinfermentierten Krümel aus Indien lagerten in einer schwarzen, mit roten chinesischen Motiven verzierten Dose auf der Etagère, einem hohen Küchenbord. Darunter stand der Gasherd, welcher auf fauchenden Flammen Wasser in einem eigenen Topf zum Kochen brachte, der beim Sieden ein anschwellendes Pfeifen von sich gab. Solch schriller Alarm rief alle von ihren jeweiligen Tätigkeiten fort, mich etwa vom Matador-Holzbaukasten.
An normalen Wochentagen kamen Jenaer Gläser mit sogenannten Teerührern auf den Tisch. Das waren handliche Löffel, die statt einer Kelle ein Tee-Ei an ihrem Stiel trugen, mit denen solange im dampfenden Wasser umgerührt wurde, bis dieses den rechten bernsteinernen Farbton angenommen hatte. Dann wurde der Teerührer herausgenommen, sorgfältig abgetropft und auf einen Teller gelegt, was ein eigenartig dumpfes Geräusch ergab.
Nun wurde ein Zuckerstück aus einer Kristallschale genommen und ins Glas versenkt. Ein wenig liess man sich Zeit, um dem Zuckerwürfel beim Auflösen zuzusehen, doch alsbald stocherte der Teelöffel nach, um das Element in Schwung zu bringen.
Zuletzt griff der alte Feldmarschallleutnant mit den Worten "Ein Soldat braucht Ehre und Ruhm!" nach einer kleinen Karaffe, die ob ihres Schliffs in allen Farben funkelte. Jedesmal, wenn er deren eingeschliffenen Stöpsel herauszog, strömte ein schwerer, süsser Geruch in den Raum. Hierauf goss er geschickt einen Schuss Rum in sein Glas, nicht ohne zuvor seinen Töchtern davon angeboten zu haben.
Mit grossem Behagen führte der Opapa dieses sodann an die Lippen, um einen ersten Schluck zu nehmen, und ich lernte, dass ein Heissgetränk lautstark geschlürft werden konnte, ohne Mamas scharfen Einspruch herauszufordern. Allerdings befand sich in meinem Kinderbecher lediglich das, was die Franzosen abschätzig tisane zu nennen pflegen.
Anders an Festtagen. Da war der Salontisch mit feinem Porzellan gedeckt, was heisst gedeckt, geziert mit Tasse, Untertasse und Kuchenteller. Der Zucker stand in einer silbernen Dose bereit mit einer ebensolchen Zange, auf dass keiner der makellos weissen Quaderchen durch eine ordinäre Hand profaniert würde. Sogar Löffelchen und Kuchengabel waren aus Silber. Und in der Mitte thronte ein Réchaud mit brennender Flachkerze, auf den die schwere Teekanne zu stehen kam.
Selbige Kanne wurde in der Küche gefüllt, worauf es galt, sie unversehrt auf den Tisch zu befördern, ohne etwas zu verschütten. Jetzt kam meine Winzigkeit ins Spiel. Das Stichwort meines Auftritts lautete: "Möchtest du den Tee hineinbringen?". Voller berechtigtem Stolz trat ich an, liess mir dicke Küchenhandschuhe überstülpen, packte das glatte, runde Steinzeuggefäss, in welchem es gefährlich schwappte, an Henkel und Bauch und jonglierte es Schritt für Schritt über die Küchenschwelle durch den langen Gang in den Salon, wo es vom Grossvater entgegengenommen und auf das Stövchen gestellt wurde.
Einige Jahre später lernte ich auf meinem Lesebett die Gralssage kennen, die es locker schaffte, den Rechen- und Schönschreibaufgaben den Rang abzulaufen. Da konnte es kaum ausbleiben, dass ich auf die blütengleiche Jungfrau Repanse de Schoye stiess, welche den heiligen Kelch in feierlichem Prozessionschritte über die Schwelle des Saales von Montsalvatsch trug und um die Tafel mit den daran versammelten Rittern herum zu ihrem Vater, dem Gralskönig. Ein wenig unangenehm berührte mich der Umstand, dass es abermals die Mädchen waren, denen das Spektakuläre anvertraut worden war, während die Buben still um den Tisch zu sitzen hatten, obschon in edles Wappentuch gehüllt und mit prächtigem Wehrgehänge umgürtet. Bei uns zuhause herrschten denn doch andere Sitten! Aber was hatte ein Wolfram von Eschenbach schon vom Teetrinken verstanden?
Allein, je deutlicher man sich von den Mädchen abgrenzt, desto sicherer verfällt man ihnen. In den frühen Siebzigern lernte ich die Frau kennen, die es bald darauf wagte, eine Ehe mit mir einzugehen. In bewundernswerter Ausdauer studierte sie damals Keramik an der Hochschule für Gestaltung in Linz. Zum Magisterabschluss schuf sie neben einem taubenblauen Kachelofen eine Reihe von eleganten Teedosen, bei denen ja besonders auf einen dichten Verschluss Wert gelegt wird.
Eine ihrer wiederholten Arbeiten war das Service, meist klassisch neunteilig ausgeführt: eine bauchige oder schlanke Teekanne, welche sechs Schalen, eine Zuckerdose und ein Milchkännchen wie eine Glucke zu hüten schien. Die Kolleginnen meiner blonden Rheintalerin und besonders ein wesentlich älterer Kollege übten sich ebenfalls in der Kannenkunst, bei der es neben einer ausgewogenen Form vor allem auf den richtigen Zug und Abriss ankam.
Was Wunder, dass viele Abende in wechselseitiger Einladung verbracht wurden, um der jeweils neuesten Kreation kritische Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen! War die Kanne wohlproportioniert und nicht zu schwer? Stiess die Tülle, gerade oder krumm, nicht zu weit vor und riss der Tropfen an ihrer Kante sauber ab? Schmeichelte der Schalenrand den Lippen? Um all dies zu entscheiden, musste nächtelang Tee getrunken werden. Zudem waren Nahrungsmittel teuer, und grosse Portionen veredelten Wassers liessen das Magenknurren buchstäblich ertrinken.
Ein jedes verfügte selbstverständlich über eine bunte Reihe englischer Blechdosen, den Herren Twining und Lipton zum ehrenden Gedenken. Neben den üblichen Verdächtigen wie Assam, Ceylon, Darjeeling und Oolong samt luftigen Jasmin- und Orangenblüten-Aromen fand sich darunter auch der häufig eingenommene Lapsang sutschong, dessen herber Aufguss nach lange getragener Fussbekleidung roch, weshalb wir ihn auch respektlos "Maos Socken" nannten. Und irgendjemand brachte einmal Grüntee in Umlauf. Jedenfalls zeigte sich nach und nach ein Anflug von Braun auf unseren Zähnen, der hübsch mit unseren tabakgegerbten Fingerkuppen harmonierte. Allerdings vermag ich mich nicht mehr zu entsinnen, woher wir in den engen Studentenbuden die Luft zum Atmen nahmen.
In der Meisterklasse für Keramik unterwies Professor Günther Praschak einige überdies in der japanischen Rakutechnik, einer ziemlich draufgängerischen Art, einzigartige Teeschalen zu fertigen. Der erste Schluck aus einem dieser metallisch schimmernden Gefässe, die das rabiate Brennverfahren überstanden hatten, war eine Ehre, die beileibe nicht ohne weiteres jedem dahergelaufenen Wiener zuteil werden konnte. Die musste erst durch ein überdurchschnittliches Interesse an der Sache verdient werden. Dann aber kam man ganz ohne Zeremonie in den Hochgenuss einer Schale Tee, die nach dem rauhen Rauch ihrer abenteuerlichen Entstehung schmeckte.
Was gäbe es nicht noch alles zu erzählen! Etwa vom Schicksal einiger Gefässe, die mich ein Stück Lebensweg begleitet haben, von verschiedenen Stuben, in denen ich tea, thé oder tschai serviert bekommen habe, von bestimmten Menschen, denen heisses Wasser mehr bedeutete als heisse Luft, und nicht zuletzt von vielen Gesprächen, die beim Nachmittagstee zustande gekommen sind. Teegeschichten gehen im Grunde nie zuende.
In Japan wird davon gesprochen, ob man zuviel oder zuwenig Tee in sich trüge. Dies drückt eine Art Gradmesser der seelischen Ausgewogenheit aus, der Grundlage jener Gelassenheit, die zur Führung eines guten Lebens unerlässlich sei. Oft gehen wir fehl, indem wir sie als Ungerührtheit missverstehen. Wer tränke indes Tee und bliebe ungerührt?
Es ist wirklich Zeit geworden, Wasser aufzusetzen, um den Frühstückstee zu bereiten, eben jenen Ceylon aus der Länggass. Auch wäre nicht schlecht, ein paar Scheiben Brot zu schneiden sowie Butter und Marmelade aus dem Kühlschrank zu holen. Was bringt eigentlich das Radio für Neuigkeiten? Still, der Wasserkocher beginnt zu rauschen.
Claude-Mario Jansa
Teegeschichte_33